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Samstagsspiel mit Salinger
Eine Ostergeschichte von Alexander Osang 2001
Noch 5000 Meter bis Röbel. "I hope you die", schrie die Bloodhound Gang aus den Boxen seiner Autostereoanlage. Er hatte hinten ein bisschen lauter gestellt, um ihnen einen Gefallen zu tun oder sich selbst. Er sah in den Rückspiegel. Die beiden Jungen regten sich nicht. Mit Papa Roach hatte er ganz gut gelegen. Er hatte die CD eingepackt, obwohl er sie nicht mochte. Die Band war ihm zu laut, und das Cover fand er eklig. Es zeigte eine Kakerlake in Nahaufnahme. Friedemann war ein Pop-Fan, wollte sich das aber nie eingestehen. Er hatte sein ganzes Leben lang Platten gegen seinen Geschmack und sein Alter gekauft. All dieses furchtbare Grunge-Zeug. Er besaß mindestens vier Pearl-Jam-CDs, aber er hatte nicht eine richtig gehört. Er mochte Pearl Jam nicht. Er mochte Elton John. Er hatte sich schon mit siebzehn gewünscht, Jimmy Hendrix gut zu finden oder Weather Report. Aber er fand Smokie gut und das Electric Light Orchestra.
"Oh, Papa Roach", hatte sein Sohn gesagt. So wie Bromden in "Einer flog übers Kuckucksnest" sagt: "Oh, mit Fruchtgeschmack", als ihm McMurphy einen Kaugummi schenkt. Wörter aus der Stille. Er hatte das Eis gebrochen.
Friedemann hatte immer Discjockey sein wollen. Er hatte als Junge auf dem Klo die Top-Ten mit der Stimme von Jürgen Jürgens aufgesagt. Jürgens war sein großes Vorbild als Chart-Aufsager. Friedemann hatte die Hitparaden aus der "Melodie und Rhythmus" gelesen oder aus der "Jungen Welt". Kagagoogoo. Er liebte es, Kagagoogoo zu sagen. Spandau Ballet war noch besser. Und auf drei, rauf von sieben: Spandau Ballet! Er hatte eine gute Hitparadenstimme gehabt, wie er fand. Aber sie hatte niemand anders zu hören bekommen als er selbst.
Sebastian hatte hinten zu Papa Roach mit dem Kopf gewackelt, sein Freund nicht. Es war ein stiller blonder Junge mit misstrauischen, braunen Augen. Friedemann hatte ihn noch nie gesehen, es war sicher irgendeiner von Sebastians vielen flüchtigen Freunden. Der Junge hatte alles gemustert. Er hatte den Wagen geprüft, bevor er einstieg, er hatte sich reingebeugt und geschnüffelt. Es roch nach Leder in seinem Wagen, er fuhr einen 320er BMW mit Lederausstattung. Ein schöner Wagen, ein Nichtraucherwagen mit Klimaanlage und CD-Spieler. Damit konnte er offensichtlich keinen 15-jährigen Jungen beeindrucken. Aber Papa Roach war ein halbwegs guter Anfang gewesen. Dann hatten sie eine trostlose halbe Stunde mit Greenday verbracht. Keine Regung auf der Rückbank. Kein "Oh, Greenday!" von seinem Sohn, kein Wippen. Nichts. Er hatte schwören können, dass sie auf so was stehen. Sie fuhren zum Fußball, und das war doch Fußballmusik. Aber sie zuckten nicht. Sie tanzten nicht. Er trommelte auf dem Lederlenkrad rum. Ein bisschen zu sehr vielleicht. Er war kein Cheerleader.
"Die Die Die Die Die Die Die Die Die Die Die Die."
Zwölf Mal „Die“ von der Bloodhound Gang. Keine Reaktion im Fond.
Röbel-Mirow. Er war mal in Mirow gewesen, als er so alt war wie die beiden Jungs da hinten. Mit dem Mokick und Schulle auf dem Rücksitz. Es hatte die ganze Zeit geregnet, sie hatten in dem Zweimannzelt "Fichtelberg" gelegen wie die Wasserleichen. Es hatte durch die goldfarbenen Metallringe getropft, in die die beiden Zeltstangen mündeten. Vorne und hinten. Alles war nass und kalt.
Schulle hatte aus irgendeinem Grund Salzstangen mitgehabt. Wahrscheinlich hatte er sich das Zelten auch gemütlicher vorgestellt. Nach einer durchregneten Nacht waren die aufgequollenen Salzstangen vor den Zelteingang getrieben. Das war das Signal gewesen, wieder abzuhauen. Sie wussten beide nicht, was sie auf dem Zeltplatz machten, sie hatten an Mädchen gedacht. Salzstangen knabbern mit Mädchen in einem engen Zelt. Sie hatten nie darüber geredet. Friedemann hatte seine Eltern ein halbes Jahr bekniet, allein mit seinem Freund zelten fahren zu dürfen, dann war er vier Tage früher zurückgekommen. Er würde nie den Blick seines Vaters vergessen, als er in der Tür stand. Ein Irgendwas-stimmt-mit-dem-Jungen-nicht-Blick. Mirow war ein Vorgeschmack auf viele trostlose Urlaube seines Lebens gewesen. Es hatte nicht immer geregnet, aber er hatte selten gewusst, was er eigentlich tun soll. Immer hatte die unerfüllte Hoffnung auf Mädchen über allem gelegen.
"It’s hard to rhyme a word like Vagina", hieß es gerade in einem Song der Bloodhound Gang. Was, um Himmels willen, war das für eine Platte?! Er sah nach hinten. Wahrscheinlich hatte sich sein Vater früher so gefühlt, wenn im Samstagabendfilm plötzlich eine Frauenbrust zu sehen war. Er wollte so was nicht mit dem Sohn teilen.
"Vagina, Vagina, Vagina Vagina Vagina Vagina Vagina Vagina."
Acht Mal Vagina im Refrain. Was war das? Wurde er hier mit versteckter Kamera gefilmt? Friedemann würde die CD später verbrennen. Es war Ostersonnabend, und die Jungs waren Kinder. Sie waren ein Jahr jünger als er und Schulle damals gewesen waren. Er traute sich nicht mehr, in den Rückspiegel zu gucken. Er wurde rot. Er war 36 und wurde rot. Hörte man irgendwann auf, rot zu werden? Er wusste es nicht. Er hatte auch gedacht, dass man irgendwann aufhören würde, Pickel zu bekommen, aber er bekam immer noch Pickel. Er konnte die CD nicht mitten in diesem Lied rausnehmen, zwei Titel noch, dann aber. Dann würde er Supertramp reinlegen, sollten sie doch denken, was sie wollten. Er war eben ein alter Sack. Andererseits hatte er auch Blur mit. Und Soundgarden.
"Papa."
"Ja?"
"Dahinten ist ein McDonald’s."
"Ja."
"Wir haben Hunger."
Es waren die ersten vollständigen Sätze, die in diesem Wagen gesprochen wurden, seit sein fünfzehnjähriger Sohn und sein maulfauler Freund eingestiegen waren. WIR HABEN HUNGER. Letztlich ließ sich Vaterschaft darauf reduzieren. Er fuhr sie zu diesem Spiel nach Rostock, das wahrscheinlich grauenvoll werden würde. Er hatte ein bisschen Freundlichkeit verdient. Aber man konnte das nicht einfordern, ohne seine Würde zu verlieren.
"McDonald’s", sagte er so spöttisch wie möglich.
Sie schwiegen, es war ja alles gesagt.
Die Jungs luden sich Tabletts voll. Es kostete fast 40 Mark, was er viel fand. Er hatte eine Sparpackung mit Cheeseburger und Cola Light genommen. Den billigsten Posten der gesamten Bestellung. Er fragte sich einen Moment, ob die Mutter des Jungen ihm vielleicht Taschengeld für den Ausflug nach Rostock mitgegeben hatte, zahlte dann aber. Sie aßen schweigend. Sie hatten kein Interesse aneinander, aber die Jungs konnten damit leben. Das war der Unterschied.
"Gehst du auch aufs Gymnasium?", fragte er den blonden Jungen. Er hatte den Namen vergessen.
"Ich?"
"Ja."
"Ja."
"Und was willst du mal werden?"
Sein Sohn sah ihn vorwurfsvoll an.
"Keine Ahnung." Der Junge biss in seinen Bic Mac. Es roch nach Zwiebeln und Desinfektionsmitteln.
"Wir mussten ja immer schon mit zwölf in Fragebögen reinschreiben, was wir werden wollen", sagte Friedemann.
Die Jungen kauten. Sebastian hatte zwei Bic Macs bestellt. Zwei. "Er ist im Wachstum", hätte seine Frau gesagt. Er wurde fett, das war alles. Er wuchs in die Breite. Der Witz war, dass er Schauspieler werden wollte. Wen wollte er spielen? Bud Spencer? Die Entschlossenheit und das Selbstbewusstsein seines Sohnes waren ihm fremd. Das musste er von seiner Mutter haben. Friedemann war nicht entschlossen, er hatte keine Meinungen. "Keine Ahnung", war ihm als Antwort schon lieber. Der blonde Junge hatte auch zwei Big Macs geholt, war aber nicht der Typ, der dick wurde.
Friedemann war ganz froh, dass sie ihn nicht fragten, was er in die Fragebögen geschrieben hatte. Er hatte es vergessen.
"Woher kennt ihr euch eigentlich?"
"Skilager", sagte Sebastian. Die Jungs sahen sich an und lachten. Wahrscheinlich gab es irgendeine Geschichte, an die sie dachten. Sie würden sie nie erzählen. Er fragte nicht.
"Ich bin ja ein schlechter Skifahrer", sagte Friedemann.
Sein Sohn sah ihn mitleidig an.
"Und wo wohnst du?", fragte Friedemann.
"Rummelsburg."
Ein Geruch von Braunkohle zog Friedemann durch den Kopf. Braunkohle, Dunst, die Straßenbahn. Betrunkene, ein Kraftwerk. Rummelsburg war eine komische Gegend, manchmal fuhr er vorbei, sie hatten bunte Häuser hingebaut, die scheußlich aussahen, aber als interessant galten.
Sie aßen wirklich alles auf. Sebastian wollte noch einen Nachtisch. Er gab ihm fünf Mark. Friedemann blieb mit dem blonden Jungen allein am Tisch.
"Und was machen deine Eltern?"
"Mein Vater, weiß nicht, Taxifahrer, glaube ich. Er ist weg. Meine Mutter ist Verkäuferin."
"Was verkauft sie?"
"Bücher", sagte der Junge. "Müssen wir nicht langsam weiter?"
Friedemann sah auf die Uhr, es war noch eine knappe Stunde bis zum Spiel. Der Junge hatte Recht. Sein dicker Sohn näherte sich mit einem Milchshake und einem warmen Apfelkuchen. Er würde das Zeug im Auto essen müssen.
Sie hatten einen Strafzettel. Friedemann nahm ihn vom Scheibenwischer, er sah sich ratlos um. "Behindertenparkplatz", sagte der blonde Junge. Friedemann hätte ihm das Ticket gern an den Kopf geworfen. Die Jungs machten ihn hilflos.
In Rostock wusste er nie, welche Abfahrt er nehmen musste. Nie wusste er das. Er erinnerte sich, dass man an einer vorbeifahren musste, von der man denken könnte, dass es schon die richtige sei. Wenn man zu weit fuhr, landete man am Hafen. Das war das Zweite, was er wusste. Damit war wenig anzufangen. Er fuhr an einer Abfahrt vorbei. Sie hörten Blur. Es war ein einziger guter Song auf der Platte, fand er.
Es gab immer nur ein gutes Lied pro Platte bei Blur, er hatte drei Alben. Irgendwas steckte in seinem Kopf. Rummelsburg, Bücher, die Augen, Rummelsburg. Er sah in den Rückspiegel. Es lockerte sich. Er suchte die Augen des Jungen.
Friedemann war in die falsche S-Bahn gesprungen. Sie fuhr nach Mahlsdorf, er musste nach Köpenick. Er stieg Nöldnerplatz aus und lief das Stück nach Rummelsburg rüber. Er fühlte sich nicht schlecht, er hatte ein Kopfballtor gemacht. Er machte sonst nie Kopfballtore. Sein Schienbein tat weh, aber es ging. Es war ein warmer Abend, aus den Kneipen lachten Leute. Eine komische Gegend war das. Angeblich sollten hier die entlassenen Knastis Wohnungen bekommen. Er fand das ungerecht, sie lebten zu dritt in anderthalb Zimmern. Aus einer Eckkneipe kam ein betrunkenes Paar. Sie schwiegen, so wie man kurz vor dem ersten Kuss schweigt. Es war viertel Elf, seine Frau wartete auf ihn. Friedemann ging in die Kneipe wie im Affekt. Sie war voll und warm. Er kaufte sich eine Schachtel Cabinet von dem dicken glatzköpfigen Wirt, bestellte ein Bier und sah sich um. Es musste eine Knastikneipe sein. Alle waren betrunken, es gab wenige Zähne und viele Tätowierungen. Der einzige Tisch, an dem Platz war, stand neben der Tür. Eine dunkelhaarige Frau saß dort, die vielleicht Mitte zwanzig war. Wie er. Sie sah nicht aus, als käme sie aus dem Frauenknast, aber betrunken war sie auch. Es war frei.
"Ich bin so allein", sagte die Frau.
Friedemann bereute, nicht einfach am Tresen stehen geblieben zu sein, aber dann kam sein Bier. Er trank es in einem Zug aus und bestellte gleich ein neues. Der Wirt machte einen Strich auf den Bierdeckel.
"Und warum?", fragte Friedemann die Frau.
Nach fünf Minuten kannte er die Eckdaten. Sie war Schuhverkäuferin im Exquisit in den Rathauspassagen, hatte ein Kind, keinen Mann, und er wusste, dass er mitkommen konnte, wenn er ihr noch ein bisschen zuhörte. Eigentlich wollte er nicht, sein Schienbein schmerzte, und wenn er jetzt die Beine unterm Tisch ausstrecken würde, könnte er einen Krampf bekommen. Das reichte. Sie bestellte noch einen Schoppen Stierblut. Sie hatten Stierblut, was ihn wunderte. Vielleicht gehörte das auch zu den Privilegien der Ex-Sträflinge. Er nahm noch ein Bier.
Es kam zusammen mit einem Paar, auf das seine Tischnachbarin eigentlich gewartet hatte, sie hatte es nur vergessen. Die Frau war in ihrem Alter, sie hatte faszinierende Haare. Sie waren verschieden blond, dunkler und heller, aber nicht so, als seien sie gefärbt. Wie ein Kornfeld sahen die Haare aus. Sie hatte braune Augen, ihre Nase war groß und ihr Mund auch. Sie lachte, es sah so aus, als lache sie über ihre Freundin, aber es war kein hämisches Lachen. Der Wirt brachte einen alten Bierdeckel, sie bestellte ein Bier. Ihr Begleiter nahm ein Bier und einen weißen Schnaps. Er war älter, bestimmt schon 30, seine Nase war irgendwann mal gebrochen worden, er hatte hohe Wangenknochen und kleine Augen.
Er sah gut, aber gefährlich aus, und er redete nicht.
Es war erstaunlich, dass er mit ihr im Kino gewesen war, um sich einen Film anzusehen, der "Der Club der toten Dichter" hieß. Vermutlich weil das Wort "tot" vorkam. Sie fand den Film gut, Friedemann hatte er auch gefallen. Er sagte aber, dass er ihn zu kitschig fand. Vor allem die Schlussszene, als die Schüler von Robin Williams auf den Tisch stiegen. Er traute seinem Gefühl nicht. Seinem Urteil schon gar nicht. Sie lachte, als durchschaue sie ihn.
"Was war der letzte Film, der dir gefallen hat?", fragte sie.
"Salvador."
"Mmmh", sagte sie, sie glaubte ihm das nicht. Die Braunhaarige fasste ihn auf den Arm, als wolle sie ihn markieren. Er fühlte sich geschmeichelt. Der Boxer bestellte noch einen Schnaps und ein Bier. "Eine Einheit", nannte er das. Friedemann dachte, dass sie vielleicht über was Anderes reden sollten, über Sport vielleicht. Aber sie redeten weiter über Filme. Nur die blonde Frau und er. Der Boxer schwieg. Die dunkelhaarige Frau starrte in ihr Glas und rieb ihm ab und zu unterm Tisch auf dem Oberschenkel herum. Er spürte sein Schienbein nicht mehr. Ihr Gespräch schaukelt auf dem betrunkenen Stimmengewirr wie auf dem Meer. Er trank weiter Bier, mehr Bier, als er normalerweise trank. Die Ränder verschwammen, er sah diesen großen lachenden Mund, die verwirrenden blonden Haare. Es war unwirklich. Sie trieb ihn vor sich her. Irgendwann fragte sie: "Was ist dein Lieblingsbuch?"
"Huckleberry Finn", sagte er.
Er sagte die Wahrheit. Huckleberry Finn war sein Lieblingsbuch, aber er hätte das nie zugegeben, weil es so klang wie ein Kinderbuch.
Sie sah ihn ernsthaft an. Er sah sie an.
"Ich mag auch den Fänger im Roggen sehr", sagte er.
Noch ein Kinderbuch. Was war mit ihm los? "Von Salinger", fügte er altklug hinzu. Sie nickte.
Sie saßen in einer Glasglocke mitten in der Knastkneipe. Jetzt lachten nur ihre Augen, ihr Mund nicht.
"Wir gehen", sagte ihr Typ.
Friedemann fühlte sich, als sei er geweckt worden.
"Warte doch", sagte sie. "Ich habe hier noch nie jemanden getroffen, mit dem ich über Bücher reden kann. Bitte Lars."
"Okay", sagte Lars. "Dann gehe ich." Er stand auf und ging langsam zur Tür, und dann war er weg. Sie blieb einfach sitzen und lachte Friedemann an.
"Hast du auch „Franny und Zooey“ gelesen?", fragte sie. "Von Salinger."
Er schüttelte den Kopf. Er dachte daran, wie der Typ draußen auf ihn warten würde.
"Es ist besser als „Fänger im Roggen“, finde ich."
"Kriegt man das?", fragte er.
"Komm in die Buchhandlung am Tierpark, ich arbeite da. Wir heben immer ein paar Bücher auf. Für besondere Kunden."
"Ach, ich bin wohl nur eine doofe Schuhverkäuferin", rief die Dunkle ärgerlich und riss ihr Weinglas um. Der Rotwein lief über den Tisch, ein bisschen lief auf seine Hose. Es war eine neue Wrangler, aber es störte ihn nicht so sehr.
Sie entschuldigte sich laut und rieb auf seiner Hose rum. Friedemann sah, wie Lars wieder in die Kneipe kam, um Zigaretten zu holen. Er sah nicht zu ihnen herüber.
"Ich glaube, dein Freund wartet doch", sagte er. Er hoffte, dass es nicht ihr Freund war. Aber sie stand auf.
"Franny und Zooey", sagte sie. "Tierparkbuchhandlung."
Sie küsste ihre betrunkene Freundin auf die Haare und ging. Ihre langen buntblonden Haare tanzten durch den Rauch. Es war das Letzte, was Friedemann von ihr sah.
Er brachte die betrunkene Schuhverkäuferin in ihre Wohnung und fuhr dann nach Hause.
Die Treppen vom S-Bahnhof Köpenick tanzte er hinunter.
Es war dreizehn Jahre her.
Während des Spiels hatte er immer den Jungen angesehen, als sei er sein Sohn und nicht der dicke Sebastian. Der Junge hatte die Züge der Frau. Manchmal hatte ihn das Kind verunsichert angesehen.
Sie gewannen 1:0 gegen Bochum. Das Tor fiel in der 47. Minute, die restliche Zeit wollten fast alle Zuschauer nur noch, dass es schnell vorbei ist. Es ging nur ums Gewinnen, die lange Reise lohnte sich nicht mehr. Leider hatte er seinen Sohn zum Rostock-Fan gemacht. Er war sich nicht sicher, ob der blonde Junge Rostock mochte. Er trug den Schal wie einen Fremdkörper und sah misstrauisch auf den Platz. Ein guter Junge, er hätte gern den Namen gewusst. Als sie aus dem Stadion kamen, fragt er ihn, wo seine Mutter Bücher verkaufe.
„Am Tierpark“, sagte er.
Friedemann war nie in den Buchladen gegangen. Anfangs war ihm klar, dass er gehen würde. Er wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Nicht so überstürzt, dachte er sich. Er wollte nicht zu gierig wirken. Er malte sich aus, wie er sagte: "Ich bin wegen „Franny und Zooey" hier.
Und sie sagte: "Ich habe schon gewartet."
Irgendwann schien es ihm zu spät. Zu aufdringlich. Er wusste nicht mehr, ob sie es so gemeint hatte, wie er es in Erinnerung hatte.
Er ahnte, dass es eine Chance war, sein Leben zu verlassen. Er hatte Angst, sie zu verpassen.
Er fragte in allen Geschäften nach dem Buch. Er lief die Buchläden der Stadt ab. Er bekam es nie. Er kaufte stattdessen die "Neun Erzählungen". Sie waren lakonisch, kühl. In einer Geschichte lackierte sich eine junge Frau die Nägel, während ihr Mann am Swimmingpool mit einem Kind spielt. Irgendwann kommt der Mann hoch ins Hotelzimmer und erschießt sich. Vielleicht hatte sie ihm ein Zeichen setzen wollen. Er hatte später gehört, dass „Franny und Zooey“ das Lieblingsbuch von Madonna war. Das hatte ihn gefreut, er hatte noch mal kurz an die blonde Frau gedacht, die es ihm empfohlen hatte. Aber die Kraft hatte nicht mehr ausgereicht, um sie lebendig zu machen.
Er mochte Madonna, aber er hätte das nie zugegeben.
Die CDs für die Rückfahrt holte er aus dem Kofferraum, wo er sie vor den Jungs versteckt hatte. "Out of the Blue" vom Electric Light Orchestra, "Breakfast in America" von Supertramp und "Making Movies" von den Dire Straits. Bei "Romeo and Juliet" sang er laut mit. When you gonna realise it was just that the time was wrong, Juliet.
Manchmal stimmte alles. Die Jungen schwiegen hinten.
Sebastian schien glücklich zu sein. Rostock hatte gewonnen. Friedemann sah das dicke, zufriedene Gesicht im Rückspiegel. Er dachte, dass er ihn ansah wie sein Vater ihn immer angesehen hatte. Er konnte nichts dagegen tun.
Während er auf Berlin zufuhr, fügte sich eine von Salingers Geschichten in seinem Kopf zusammen. Es war die Jugenderinnerung eine Mannes. Er erinnerte sich an seinen Baseballtrainer in New York. Der junge, schöne Mann trainiert eine Gruppe von Jungs im Central Park. Bei schlechtem Wetter erzählt er den Kindern ein Märchen von einem Mann, der sein entstelltes Gesicht unter einer Maske verbirgt und Gutes tut. Er heißt der lachende Mann. Die Geschichte ist scheinbar endlos und spannend. Die Kinder vergöttern den Lehrer. Er fährt die Jungs im Bus zum Training, und eines Tages hängt das Bild eines Mädchens vorn neben ihm im Bus. Es ist ein schönes Mädchen, und manche Jungs empfinden sie als Bedrohung für ihre Idylle. Sie fragen ihn, wer das ist, er sagt ihnen einen Namen, aber redet nicht weiter über das Mädchen.
Eines Tages steht sie an der Haltestelle und wartet. Sie steigt in den Bus, es ist eines der drei schönsten Mädchen, an die sich der Junge, der die Geschichte erzählt, erinnern kann. Sie begleitet sie ein paar Mal zum Training, sie spielt auch mit, die Jungen beginnen sie zu lieben. Es werden die schönsten Trainingsstunden der Saison. Eines Tages spielt sie nicht mit, sie sitzt auf einer Bank und schaut ihnen zu. Der Trainer geht nach dem Training zu ihr. Sie reden, der Junge kann nicht hören worüber, danach geht sie, und er sieht sie nie wieder. In ihrer nächsten Trainingsstunde beendet der junge Trainer seine scheinbar endlose Geschichte über den Helden mit der Maske. Der lachende Mann stirbt. Es ist ein trauriges Ende, das Friedemann vergessen hatte. Er wusste nur, dass das Mädchen weg war. Und er ahnte, dass man sie hätte aufhalten können.
"Soll ich dich nach Hause fahren?", fragte Friedemann. Der Junge nickte.
Er fuhr traumwandlerisch sicher nach Rummelsburg. Es wurde Frühling. Es war ein 30er-Jahre-Bau mit einem großen Hof in der Mitte. Sie wohnte im 2. Stock. Friedemann und sein Sohn liefen dem blonden Jungen hinterher.
"Mama", rief der Junge, nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte. Friedemann mochte es, dass er sie Mama nannte.
"Mama!"
Es war still. Sie war nicht da. Friedemann war froh, ja er war eher froh, er wollte keine Enttäuschungen. Er trat in die Wohnung, lief dem Jungen hinterher. Es gab eine kleine quadratische Diele. Es gab drei Zimmer. Links war offenbar das Wohnzimmer.
Er stand in dem Zimmer, er fragte sich, ob er sich hier wohl fühlen würde. Es gab viele Bücher. Das war gut. Sie waren nach Alphabet sortiert, das war weniger gut. Es war ein bisschen zu ordentlich, ein bisschen verspannt ordentlich. Der lustige Teppich in der Mitte des Holzfußbodens störte ihn. Er war zu lustig, zu aufgeschlossen. Der Holzfußboden war zu hell, zu neu. Aber es gab ein schönes Bild über dem Sofa. Es war ein Strandhaus, vor dem eine Frau mit Kopftuch stand, es sah aus wie eine Hopper-Reproduktion. Aber die Landschaft war mecklenburgisch. Er mochte das Sofa und den kleinen Ledersessel. Das Zimmer roch nach einem Parfum, das er oft im Fahrstuhl seiner Firma roch. Auf der kleinen Panasonic-Anlage lag eine "The best of Simon & Garfunkel"-CD. Er mochte Simon & Garfunkel, aber er hätte sie nie auf die Anlage gelegt. Schon gar keine „The best of“. Auf seiner Anlage lagen die Red Hot Chili Peppers, obwohl er die auch nie hörte. Man konnte sie gut aussprechen. Besonders das L in Chili. Von 22 rauf auf 11 die Red Hot Chili Peppers mit „My Friends“.
Er stand wie festgenagelt in dem Altneubauzimmer. Er hätte gern die anderen Zimmer gesehen und das Bad. Sein Sohn wirkte im Halbschatten des Flurs ungeduldig. Wahrscheinlich kam irgendwas im Fernsehen. Richtig, das Abendspiel. Friedemann ging zu den Bücherregalen, er sah bei S nach. Sie hatte die Erzählungen nicht, sie hatte den Fänger im Roggen, und sie hatte zwei Ausgaben von Franny und Zooey. Zwei alte DDR-Ausgaben. Eine war zerlesen, eine war unbenutzt. Er nahm sich die unbenutzte aus dem Regal und schlug sie auf. Die Seiten knackten noch.
"Papa", rief sein Sohn. Er tat ihm jetzt wirklich Leid.
Friedemann setzte sich mit seinem Buch in den kleinen Ledersessel. Er war gemütlich. Er würde hier noch ein bisschen warten. Er wollte noch nicht raus. Nur einen Moment.
Die beiden Jungen sahen ihn erstaunt an, mit Interesse.
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