Foto: Jabs |
Zum Champions League-Finale 2012:
http://www.stern.de/sport/
Ein famoser Beitrag von Holger Gertz:
"Trotzdem wünscht sich jeder, einmal im Leben den Messi-Pass zu spielen. Die richtige Frau küssen, auf die richtige Zahl setzen, den Ball richtig treffen, das ist es doch."
"Die meisten Menschen mögen denjenigen nicht, der alle Preise gewinnt, sie begegnen ihm mit Neid, während sie bereit sind, den Verlierer zu lieben, vermutlich, weil sie sich in ihm wiedererkennen."
ÜBER DAS VERLIEREN
Niederlagen sind grausam, und es ist zu bezweifeln, dass man an ihnen
wachsen kann. Trotzdem zeigt das Scheitern des FC Bayern, was das
Großartige am Fußball ist.
Von Holger Gertz
München - Anlässlich des Spiels der Bayern gegen Chelsea hatte die
Uefa im Münchner Olympiapark ein Champions-League-Museum eingerichtet,
schwarz ausgekleidete Ausstellungsräume, Klimaanlage knapp über der
Froststufe, es war ein bisschen wie im Lenin-Mausoleum. In Glaskästen
hingen die Reliquien großer Tage: Beckhams Trikot, Ronaldinhos Socken,
die handsignierte Gelbe Karte des kahlköpfigen Schiedsrichters Collina
aus irgendeinem Finale. Die großen Spieler wurden auf den Erklärtafeln
auch mit ihren Spitznamen vorgestellt. Dass Beckenbauer der Kaiser
ist, war soweit bekannt, aber dass Marco van Basten 'Der Schwan von
Utrecht' genannt wurde oder Ferenc Puskás 'Der galoppierende Major',
wussten die wenigsten derjenigen, die sich das alles anschauten. Die
Museumsbesucher blickten aus runden Kinderaugen, auch wenn sie keine
Kinder mehr waren, und im Kino nebenan konnten sie die großen Momente
der Fußballgeschichte, unterlegt von dräuender Musik, noch mal in Ruhe
in sich aufsaugen.
Das ultimative Tor, das ultimative Comeback, die ultimative
Torwartparade. Fußball, wenn er im Museum ausgestellt wird, scheint zu
einer schwer fassbaren Übergröße aufgepumpt zu werden, den kleinen
Bomber Müller noch mal jubelnd hüpfen zu sehen, ist einerseits
berührend, andererseits kommt es einem immer etwas lächerlich vor, von
Fußballnostalgie bewegt zu werden. Weil der müllernde Müller, der
wieselnde Hoeneß, der rackernde Schwarzenbeck den Lauf der Welt auch
nicht wesentlich verändert haben, wenn man es nüchtern betrachtet. Und
weil kein Messi-Pass irgendein drängendes Problem löst. Trotzdem
wünscht sich jeder, einmal im Leben den Messi-Pass zu spielen. Die
richtige Frau küssen, auf die richtige Zahl setzen, den Ball richtig
treffen, das ist es doch.
Weil also niemand Fußball schaut, um die Dinge nüchtern zu betrachten,
sondern weil jeder Emotionen beobachten und gleichzeitig spüren will,
schenkt der Mensch dem Fußball seine ganze Liebe. Er bewundert den
Sieger, aber er fühlt mit dem Verlierer, im Stadion sowieso, aber auch
in diesem Kinosaal des Museums, wo sich ein Gesicht besonders
einprägte, ein Gesicht unter hundert Fußballergesichtern, das Gesicht
von Andrij Schewtschenko, den sie Sheva nennen. Eine Szene aus dem
Champions-League-Finale 2005, Liverpool gegen AC Milan, Liverpool
hatte schon 0:3 hintengelegen, war zurückgekommen, hatte ausgeglichen.
Das Spiel war eines dieser Spiele, die nur im Elfmeterschießen enden
können, es war ein großes Spiel, und Schewtschenko machte sich bereit.
Er spielte für Milan, er musste treffen. Schewtschenko war ein
Multimillionär, einer der besten Fußballer seiner Zeit, aber Spiele
wie diese sind so groß, dass die Spieler unter ihrem Druck klein
werden. Er lief an, ein kurzer Blick zur Seite, ein kaum merklicher
Biss auf die Unterlippe. Der ganze Mann prognostizierte das, was
kommen würde. Er war ein Superstar, aber er trug jetzt wieder die
weichen, unsicheren Züge eines Jungen. Sein Gesicht sprach, ohne zu
reden, es sagte nur einen Satz: Ich schaffe es nicht.
Zwei Tage nach dem Museumsbesuch, im Biergarten am Hofbräukeller in
München-Haidhausen, die letzten Momente eines großen Spiels. Die
Bayern hatten den Schlüssel gesucht in ihrem Champions-League-Endspiel
gegen Chelsea, und am Ende hatte Thomas Müller die Tür einfach
eingetreten, so sah es aus für fünf Minuten, aber dann fiel die Tür
doch wieder zu. Finale dahoam hatte vor dem Spiel auf den Plakaten
gestanden, es war debattiert worden über die verachtenswerte
Millionario-Truppe aus Chelsea, über den Totalkommerz der Uefa, über
die immer hysterischeren Fans, die jetzt - es passierte in Düsseldorf
- sogar den Elfmeterpunkt bei lebendigem Leib aus dem Stadionrasen
reißen. Fußball kann nervig sein, wenn er nur Geschäft ist oder nur
Ventil oder nur Folklore. Fußball kann langweilig sein,
Abnutzungskämpfe auf der Bielefelder Alm, Rudelbildung auf dem
Betzenberg. Aber alle paar Jahre gibt es einen großen Samstag, und
dann kann Fußball noch immer echt und erbarmungslos sein, wenn sein
Kern berührt wird, das Duell zweier Teams , das sich zuspitzt zum
Duell zweier Männer, die ihre Mannschaft repräsentieren, aber auch
Menschen sind, zweifelnde Wesen.
Petr Cech, Chelseas Torwart, sie nennen ihn Dr. Zero. Dr. Zero also
gegen Bastian Schweinsteiger. Sie nennen ihn Schweini. Auf allen
Leinwänden in der Stadt, auf den Fernsehern in den Wohnzimmern und
sogar auf dem Bildschirm beim G-8-Gipfel zeigen sie den Torwart immer
nur ganz kurz, aber den Schützen sehr lang, man kann ihn studieren, in
seinem Gesicht und in seiner Körperhaltung lesen. Als Bastian
Schweinsteiger zum Punkt geht, ist die Kamera ganz nah. Er geht, wie
er immer geht, ein wenig gebeugt, Schweinsteiger hat keine
supermännliche Ballack-Figur, seine Haltung verbirgt nicht sein
Inneres, sie drückt es aus. In allem, was er tut, ist er einer, den
man noch immer Schweini nennen darf.
Der Ball liegt auf dem Punkt, vier Schritte Anlauf, ein kurzes
Ausatmen. Und - bei dem, der im Museum war - eine blitzlichtartige
Erinnerung an das wortlos sprechende Gesicht von Andrij Schewtschenko.
Ich schaffe es nicht.
Schweinsteiger läuft an, verzögert leicht. Sein rechter Fuß, der Ball.
Der Pfosten. Der Pfosten? Auf den Bildschirmen, in den Biergärten, in
den Wohnungen und auch beim G-8-Gipfel, sieht man nicht gleich, was
passiert ist, oder man will es nicht sehen. Vor dem inneren Auge der
Phantasie springt der Ball manchmal vom Gestänge hinten im Tor zurück.
'War doch drin?', fragt eine Frau im Biergarten, die nicht oft Fußball
schaut, an ihrem Bayern-Shirt ist das Preisschild noch dran. War nicht
drin. Schweinsteiger zieht sein Trikot über den Kopf. Wie Kinder es
tun, die glauben, wenn sie niemanden sehen, würden sie selbst nicht
gesehen. Dann kommt Drogba. Drogba gegen Neuer. Und dann ist es
vorbei.
Ein großes Spiel klärt Verhältnisse, die vor dem großen Spiel noch
unumstößlich festgeschrieben zu sein schienen. In der Orlandostraße in
der Altstadt gibt es drei Fanshops. Einen FC-Bayern-Fanshop, einen
allgemeinen Fanshop mit Klamotten von verblassten Größen wie Werder
und dem HSV, einen 1860-Fanshop. 1860 München - für die, die nicht so
im Milieu zu Hause sind - ist der Arbeiterverein in München, wohnhaft
in Giesing, das Gegenstück zum reichen FCB, dessen ultimativster
Spieler Beckenbauer mal das schöne Lied aufgenommen hat: 'Du bist das
Glück.' Obwohl Beckenbauer aus Giesing stammt, hat er die Sechzger mit
diesem Lied dezidiert nicht besungen. Vor dem Spiel standen die
Menschen in Schlangen vorm Bayernshop an, der Sechzger-Laden war
verwaist, nur ein paar Chelsea-Fans gingen rein und schauten sich um.
Die Londoner werden die Blues genannt, wegen der Vereinsfarben, die
Sechzger sind die Blauen, auch wegen der Farben, außerdem tragen beide
Klubs einen stehenden Löwen im Wappen.
Ein Chelsea-Fan, vorm Sechzger-Shop: 'This is the best Munich club.'
1860-Fan: 'Because of the colours?'
Chelsea-Fan: 'Because of the lion.'
Die Debatte ging noch eine Zeit lang so weiter, andere Löwenfans
schalteten sich ein und versuchten, den Engländern ihre Sympathie
auszudrücken, wegen der Farben, wegen der Löwen und wegen des FC
Bayern sowieso, der eine Tracht Prügel verdient hätte, wenigstens eine
Watschn. Weil sich aber 'Watschn' und 'Tracht Prügel' nur schwer
übersetzen lassen, standen die Blues und die Blauen irgendwann hilflos
herum, durch ein unsichtbares Band aneinander gefesselt.
'Do you know Sechzig?', fragte schließlich ein tapferer Mann aus
Giesing, aber weil der Brite vor ihm nur ratlos die Schultern hob,
beendete ein anderer Giesinger das Gespräch, mit einem
hingegrantelten, sehr angenehm münchnerischen Unterton: 'Kennt halt
koaner, unsern Scheiß-Verein.'
Der FC Bayern München dagegen wird von vielen Menschen als
Siegmaschine beschrieben, in diesem Begriff schwingt ein wenig
Anerkennung mit, aber vor allem viel Geringschätzung. Die meisten
Menschen mögen denjenigen nicht, der alle Preise gewinnt, sie begegnen
ihm mit Neid, während sie bereit sind, den Verlierer zu lieben,
vermutlich, weil sie sich in ihm wiedererkennen. Die Mehrheit der
Menschen, nicht nur die Jammerei in sämtlichen Internetforen beweist
es, zählt sich zu den Verlierern, zu den Poulidors, wie der Franzose
sagt. Raymond Poulidor war in den Sechzigern und Siebzigern ein großer
Radrennfahrer. Aber er gewann nie das größte Radrennen, die Tour de
France, dreimal war er Zweiter, fünfmal Dritter. Einmal fehlten ihm
nur 55 Sekunden. Die Franzosen lieben ihn trotzdem oder gerade
deswegen, sie nennen ihn Poupou.
Der FC Bayern will auf den Poupou-Effekt nicht setzen, dabei liegt die
Zeit, als er eine Siegmaschine war, schon länger zurück, und es ist in
gewissem Sinne unfair, einen Menschen, einen Verein, eine Stadt auch
in der Gegenwart immer noch an der Größe der Vergangenheit zu messen.
Die Bayern sind deutscher Rekordmeister, sie waren in den Siebzigern
die Übermannschaft in Europa, auch 2001 haben sie die Champions League
gewonnen, aber spektakulärer war die Niederlage 1999 gegen Manchester,
in drei Minuten der Nachspielzeit. Mit dem Drama dahoam - im eigenen
Stadion, im Elfmeterschießen, im Elfmeterschießen gegen Engländer! -
haben sie die nächste tragische Klatsche der jüngeren
Fußball-Geschichte kassiert, außerdem hatten ihnen die Dortmunder
gerade in Meisterschaft und Pokal das Fell über die Ohren gezogen.
Die Bayern sind in allen Wettbewerben Zweiter geworden in diesem Jahr,
man kann das behämen, man kann aber auch sagen, dass der Charakter der
Spieler - und damit auch der Charakter der Mannschaft - sich verändert
hat über die Jahre. Womöglich wäre es anders gekommen, wenn sie ein
paar Zerstörer mehr im Team hätten, eine Mannschaft, die eine Maschine
sein will, braucht Zerstörer. Die Bayern haben aber die Zauberfüße
Ribéry und Robben, das Team fühlt sich nicht nur dem Ergebnis
verpflichtet, wie früher, sondern auch dem Erlebnis, der Schönheit des
Spiels. Viele kicken mit, die Brüder des sympathischen Herrn Rossi
sind, der das Glück sucht, aber es nicht findet. Die Bayern,
verschrien als Buyern, haben mehr junge Spieler entwickelt als die
meisten anderen Klubs im Land, Schweinsteiger, Lahm, zuletzt
Badstuber, Alaba. Das Maschinenherz schlägt längst nicht mehr, und
nach diesem Samstag kann man sagen: Auch der Bayerndusel, der diesen
Klub so oft gerettet hat, ist eine Größe der Vergangenheit.
Aber will man nicht gern verachtet werden, wenn man Sieger sein darf?
'Euer Hass ist unser Stolz' war lange einer der Slogans der
Bayern-Fans, die sich mit dem Verlieren nicht gern aufhalten. Und
jetzt, kann man an Niederlagen wachsen? Der Sozialwissenschaftler und
Publizist Jan Philipp Reemtsma hat in seinem wunderbaren Buch über den
Stil des Boxers Muhammad Ali erklärt, was das Verlieren aus dem
Verlierer macht: 'Man wächst nicht an Niederlagen. Man geht an
Niederlagen zugrunde, und wo man nicht zugrunde geht, wird man
deformiert.' Es ist ein bemerkenswerter Text über das Verlieren, so
klar und brutal wie ein verschossener Elfmeter. Reemtsma schreibt:
'Niederlagen sind unerträglich. Wer mit einem Geschäft bankrott macht,
wessen Fuß an der Latte hängenbleibt, wer auf der Bühne ausgepfiffen
wird, wer aus dem Ring geprügelt wird, wem die Frau ausgespannt wird -
die alle möchten brüllen vor Schmerz.'
Manchmal ertappt man sich an so einem Tag dabei, wie man selbst dem
Sieger und dem Sieg verfallen ist. Olympiastadion München, ein paar
Stunden vor dem großen Spiel. Es treten an: Legenden, große Fußballer
der Vergangenheit, Zico und Cafú spielen bei der internationalen
Mannschaft, Breitner, Elber, Helmer, Makaay bei den Allstars des FC
Bayern. Die meisten dieser Männer haben gewonnen, was es zu gewinnen
gibt, Goldene Schuhe, Landesmeisterpokale, Weltmeisterschaften. Sie
laufen auf das Feld wie damals, die paar tausend Zuschauer klatschen
und erheben sich. Es ist interessant, dass Fußballer ihre
Bewegungsabläufe auch dann nicht verändern, wenn sie keine Profis mehr
sind. Sie sind als Junge von irgendwem aufgezogen worden, an einer
nicht sichtbaren Schraube auf dem Rücken, und dann laufen sie einfach
immer weiter, im für alle Zeiten vorgegebenen Takt. Roy Makaay mit
seinen Storchenbeinen. Paul Breitner, das gesamte Feld durchmessend,
sich dabei umschauend, was die hinter ihm so treiben. Wenn der Wind
entsprechend steht, kann man seine kehligen Rufe hören. Breitner ist
60, aber er ist drahtig und bewundernswert fit. Eigentlich sieht er
aus wie früher, nur mit grauem Haar. Und weil das Spiel im
Olympiastadion stattfindet, und weil der Olympiaturm wie früher
reinlugt ins Stadion, und weil Breitner genau hier den Elfmeter
versenkt hat gegen die Niederländer im WM-Finale 74, denkt man: So
einen bräuchten sie heute Abend, der Paul würde es reißen.
Und dann, am Abend, Breitners Erben, kauernd am Boden der neuen Arena.
Philipp Lahm, Verteidiger wie Breitner, mutig wie Breitner. Vorm
Elfmeterschießen haben sie noch im Kreis gestanden, die Bayern, man
konnte Lahm kaum erkennen, so klein ist er, aber man konnte seine
Hände sehen, wie sie die Richtung vorgaben. Er hat die anderen
ermutigt, er hat den ersten Elfer verwandelt, ein großer Kapitän. Aber
es hat nicht gereicht.
Manchmal an so einem Abend spürt man das warme Mitgefühl für Verlierer
in sich aufsteigen, und dann geht man heim, vorbei an der
Maratonga-Bar, wo Senioren zu Schlagermusik tanzen, das Lied heißt 'Im
Hotel zur Schweigepflicht'. Die hier haben nichts mitgekriegt vom
Drama, das ist der Vorteil, wenn man sich für Fußball so gar nicht
interessiert.
Die Bayern müssen am Dienstag schon wieder ran, in Freundschaft gegen
die Niederlande. Nach dem wichtigsten Spiel kommt das unwichtigste.
Und dann fahren sie zur Nationalmannschaft, Schweinsteiger und Lahm
und die anderen. Die EM fängt bald an. Vielleicht wären sie im Triumph
durch dieses Turnier gerauscht, wenn sie die Champions League gewonnen
hätten. Sie hätten fliegen können. Jetzt müssen sie erstmal die Lust
am Fußball wiederfinden.
Man arbeitet, man verbessert sich. Man kämpft. Man misst sich mit
anderen. Man verliert. Man ist verzweifelt, aber bald hofft man. Man
arbeitet und kämpft, man verbessert sich weiter. Man ist sich seiner
Sache ziemlich sicher. Dann verliert man wieder. Man wird beschissen,
jedenfalls fühlt man sich beschissen, und verloren. Man möchte Drogba
sein, aber meistens ist man Schweini. Man liegt am Boden, man weint,
verlieren ist schrecklich, aber viel schlimmer noch als das Verlieren
ist die Gewissheit, dass man danach immer weitermachen muss.
Was ist das Großartige am Fußball? Dass er, in seinen besten Momenten,
wie das Leben ist, so kann man es wohl sagen.
Niederlagen sind grausam, und es ist zu bezweifeln, dass man an ihnen
wachsen kann. Trotzdem zeigt das Scheitern des FC Bayern, was das
Großartige am Fußball ist.
Von Holger Gertz
München - Anlässlich des Spiels der Bayern gegen Chelsea hatte die
Uefa im Münchner Olympiapark ein Champions-League-Museum eingerichtet,
schwarz ausgekleidete Ausstellungsräume, Klimaanlage knapp über der
Froststufe, es war ein bisschen wie im Lenin-Mausoleum. In Glaskästen
hingen die Reliquien großer Tage: Beckhams Trikot, Ronaldinhos Socken,
die handsignierte Gelbe Karte des kahlköpfigen Schiedsrichters Collina
aus irgendeinem Finale. Die großen Spieler wurden auf den Erklärtafeln
auch mit ihren Spitznamen vorgestellt. Dass Beckenbauer der Kaiser
ist, war soweit bekannt, aber dass Marco van Basten 'Der Schwan von
Utrecht' genannt wurde oder Ferenc Puskás 'Der galoppierende Major',
wussten die wenigsten derjenigen, die sich das alles anschauten. Die
Museumsbesucher blickten aus runden Kinderaugen, auch wenn sie keine
Kinder mehr waren, und im Kino nebenan konnten sie die großen Momente
der Fußballgeschichte, unterlegt von dräuender Musik, noch mal in Ruhe
in sich aufsaugen.
Das ultimative Tor, das ultimative Comeback, die ultimative
Torwartparade. Fußball, wenn er im Museum ausgestellt wird, scheint zu
einer schwer fassbaren Übergröße aufgepumpt zu werden, den kleinen
Bomber Müller noch mal jubelnd hüpfen zu sehen, ist einerseits
berührend, andererseits kommt es einem immer etwas lächerlich vor, von
Fußballnostalgie bewegt zu werden. Weil der müllernde Müller, der
wieselnde Hoeneß, der rackernde Schwarzenbeck den Lauf der Welt auch
nicht wesentlich verändert haben, wenn man es nüchtern betrachtet. Und
weil kein Messi-Pass irgendein drängendes Problem löst. Trotzdem
wünscht sich jeder, einmal im Leben den Messi-Pass zu spielen. Die
richtige Frau küssen, auf die richtige Zahl setzen, den Ball richtig
treffen, das ist es doch.
Weil also niemand Fußball schaut, um die Dinge nüchtern zu betrachten,
sondern weil jeder Emotionen beobachten und gleichzeitig spüren will,
schenkt der Mensch dem Fußball seine ganze Liebe. Er bewundert den
Sieger, aber er fühlt mit dem Verlierer, im Stadion sowieso, aber auch
in diesem Kinosaal des Museums, wo sich ein Gesicht besonders
einprägte, ein Gesicht unter hundert Fußballergesichtern, das Gesicht
von Andrij Schewtschenko, den sie Sheva nennen. Eine Szene aus dem
Champions-League-Finale 2005, Liverpool gegen AC Milan, Liverpool
hatte schon 0:3 hintengelegen, war zurückgekommen, hatte ausgeglichen.
Das Spiel war eines dieser Spiele, die nur im Elfmeterschießen enden
können, es war ein großes Spiel, und Schewtschenko machte sich bereit.
Er spielte für Milan, er musste treffen. Schewtschenko war ein
Multimillionär, einer der besten Fußballer seiner Zeit, aber Spiele
wie diese sind so groß, dass die Spieler unter ihrem Druck klein
werden. Er lief an, ein kurzer Blick zur Seite, ein kaum merklicher
Biss auf die Unterlippe. Der ganze Mann prognostizierte das, was
kommen würde. Er war ein Superstar, aber er trug jetzt wieder die
weichen, unsicheren Züge eines Jungen. Sein Gesicht sprach, ohne zu
reden, es sagte nur einen Satz: Ich schaffe es nicht.
Zwei Tage nach dem Museumsbesuch, im Biergarten am Hofbräukeller in
München-Haidhausen, die letzten Momente eines großen Spiels. Die
Bayern hatten den Schlüssel gesucht in ihrem Champions-League-Endspiel
gegen Chelsea, und am Ende hatte Thomas Müller die Tür einfach
eingetreten, so sah es aus für fünf Minuten, aber dann fiel die Tür
doch wieder zu. Finale dahoam hatte vor dem Spiel auf den Plakaten
gestanden, es war debattiert worden über die verachtenswerte
Millionario-Truppe aus Chelsea, über den Totalkommerz der Uefa, über
die immer hysterischeren Fans, die jetzt - es passierte in Düsseldorf
- sogar den Elfmeterpunkt bei lebendigem Leib aus dem Stadionrasen
reißen. Fußball kann nervig sein, wenn er nur Geschäft ist oder nur
Ventil oder nur Folklore. Fußball kann langweilig sein,
Abnutzungskämpfe auf der Bielefelder Alm, Rudelbildung auf dem
Betzenberg. Aber alle paar Jahre gibt es einen großen Samstag, und
dann kann Fußball noch immer echt und erbarmungslos sein, wenn sein
Kern berührt wird, das Duell zweier Teams , das sich zuspitzt zum
Duell zweier Männer, die ihre Mannschaft repräsentieren, aber auch
Menschen sind, zweifelnde Wesen.
Petr Cech, Chelseas Torwart, sie nennen ihn Dr. Zero. Dr. Zero also
gegen Bastian Schweinsteiger. Sie nennen ihn Schweini. Auf allen
Leinwänden in der Stadt, auf den Fernsehern in den Wohnzimmern und
sogar auf dem Bildschirm beim G-8-Gipfel zeigen sie den Torwart immer
nur ganz kurz, aber den Schützen sehr lang, man kann ihn studieren, in
seinem Gesicht und in seiner Körperhaltung lesen. Als Bastian
Schweinsteiger zum Punkt geht, ist die Kamera ganz nah. Er geht, wie
er immer geht, ein wenig gebeugt, Schweinsteiger hat keine
supermännliche Ballack-Figur, seine Haltung verbirgt nicht sein
Inneres, sie drückt es aus. In allem, was er tut, ist er einer, den
man noch immer Schweini nennen darf.
Der Ball liegt auf dem Punkt, vier Schritte Anlauf, ein kurzes
Ausatmen. Und - bei dem, der im Museum war - eine blitzlichtartige
Erinnerung an das wortlos sprechende Gesicht von Andrij Schewtschenko.
Ich schaffe es nicht.
Schweinsteiger läuft an, verzögert leicht. Sein rechter Fuß, der Ball.
Der Pfosten. Der Pfosten? Auf den Bildschirmen, in den Biergärten, in
den Wohnungen und auch beim G-8-Gipfel, sieht man nicht gleich, was
passiert ist, oder man will es nicht sehen. Vor dem inneren Auge der
Phantasie springt der Ball manchmal vom Gestänge hinten im Tor zurück.
'War doch drin?', fragt eine Frau im Biergarten, die nicht oft Fußball
schaut, an ihrem Bayern-Shirt ist das Preisschild noch dran. War nicht
drin. Schweinsteiger zieht sein Trikot über den Kopf. Wie Kinder es
tun, die glauben, wenn sie niemanden sehen, würden sie selbst nicht
gesehen. Dann kommt Drogba. Drogba gegen Neuer. Und dann ist es
vorbei.
Ein großes Spiel klärt Verhältnisse, die vor dem großen Spiel noch
unumstößlich festgeschrieben zu sein schienen. In der Orlandostraße in
der Altstadt gibt es drei Fanshops. Einen FC-Bayern-Fanshop, einen
allgemeinen Fanshop mit Klamotten von verblassten Größen wie Werder
und dem HSV, einen 1860-Fanshop. 1860 München - für die, die nicht so
im Milieu zu Hause sind - ist der Arbeiterverein in München, wohnhaft
in Giesing, das Gegenstück zum reichen FCB, dessen ultimativster
Spieler Beckenbauer mal das schöne Lied aufgenommen hat: 'Du bist das
Glück.' Obwohl Beckenbauer aus Giesing stammt, hat er die Sechzger mit
diesem Lied dezidiert nicht besungen. Vor dem Spiel standen die
Menschen in Schlangen vorm Bayernshop an, der Sechzger-Laden war
verwaist, nur ein paar Chelsea-Fans gingen rein und schauten sich um.
Die Londoner werden die Blues genannt, wegen der Vereinsfarben, die
Sechzger sind die Blauen, auch wegen der Farben, außerdem tragen beide
Klubs einen stehenden Löwen im Wappen.
Ein Chelsea-Fan, vorm Sechzger-Shop: 'This is the best Munich club.'
1860-Fan: 'Because of the colours?'
Chelsea-Fan: 'Because of the lion.'
Die Debatte ging noch eine Zeit lang so weiter, andere Löwenfans
schalteten sich ein und versuchten, den Engländern ihre Sympathie
auszudrücken, wegen der Farben, wegen der Löwen und wegen des FC
Bayern sowieso, der eine Tracht Prügel verdient hätte, wenigstens eine
Watschn. Weil sich aber 'Watschn' und 'Tracht Prügel' nur schwer
übersetzen lassen, standen die Blues und die Blauen irgendwann hilflos
herum, durch ein unsichtbares Band aneinander gefesselt.
'Do you know Sechzig?', fragte schließlich ein tapferer Mann aus
Giesing, aber weil der Brite vor ihm nur ratlos die Schultern hob,
beendete ein anderer Giesinger das Gespräch, mit einem
hingegrantelten, sehr angenehm münchnerischen Unterton: 'Kennt halt
koaner, unsern Scheiß-Verein.'
Der FC Bayern München dagegen wird von vielen Menschen als
Siegmaschine beschrieben, in diesem Begriff schwingt ein wenig
Anerkennung mit, aber vor allem viel Geringschätzung. Die meisten
Menschen mögen denjenigen nicht, der alle Preise gewinnt, sie begegnen
ihm mit Neid, während sie bereit sind, den Verlierer zu lieben,
vermutlich, weil sie sich in ihm wiedererkennen. Die Mehrheit der
Menschen, nicht nur die Jammerei in sämtlichen Internetforen beweist
es, zählt sich zu den Verlierern, zu den Poulidors, wie der Franzose
sagt. Raymond Poulidor war in den Sechzigern und Siebzigern ein großer
Radrennfahrer. Aber er gewann nie das größte Radrennen, die Tour de
France, dreimal war er Zweiter, fünfmal Dritter. Einmal fehlten ihm
nur 55 Sekunden. Die Franzosen lieben ihn trotzdem oder gerade
deswegen, sie nennen ihn Poupou.
Der FC Bayern will auf den Poupou-Effekt nicht setzen, dabei liegt die
Zeit, als er eine Siegmaschine war, schon länger zurück, und es ist in
gewissem Sinne unfair, einen Menschen, einen Verein, eine Stadt auch
in der Gegenwart immer noch an der Größe der Vergangenheit zu messen.
Die Bayern sind deutscher Rekordmeister, sie waren in den Siebzigern
die Übermannschaft in Europa, auch 2001 haben sie die Champions League
gewonnen, aber spektakulärer war die Niederlage 1999 gegen Manchester,
in drei Minuten der Nachspielzeit. Mit dem Drama dahoam - im eigenen
Stadion, im Elfmeterschießen, im Elfmeterschießen gegen Engländer! -
haben sie die nächste tragische Klatsche der jüngeren
Fußball-Geschichte kassiert, außerdem hatten ihnen die Dortmunder
gerade in Meisterschaft und Pokal das Fell über die Ohren gezogen.
Die Bayern sind in allen Wettbewerben Zweiter geworden in diesem Jahr,
man kann das behämen, man kann aber auch sagen, dass der Charakter der
Spieler - und damit auch der Charakter der Mannschaft - sich verändert
hat über die Jahre. Womöglich wäre es anders gekommen, wenn sie ein
paar Zerstörer mehr im Team hätten, eine Mannschaft, die eine Maschine
sein will, braucht Zerstörer. Die Bayern haben aber die Zauberfüße
Ribéry und Robben, das Team fühlt sich nicht nur dem Ergebnis
verpflichtet, wie früher, sondern auch dem Erlebnis, der Schönheit des
Spiels. Viele kicken mit, die Brüder des sympathischen Herrn Rossi
sind, der das Glück sucht, aber es nicht findet. Die Bayern,
verschrien als Buyern, haben mehr junge Spieler entwickelt als die
meisten anderen Klubs im Land, Schweinsteiger, Lahm, zuletzt
Badstuber, Alaba. Das Maschinenherz schlägt längst nicht mehr, und
nach diesem Samstag kann man sagen: Auch der Bayerndusel, der diesen
Klub so oft gerettet hat, ist eine Größe der Vergangenheit.
Aber will man nicht gern verachtet werden, wenn man Sieger sein darf?
'Euer Hass ist unser Stolz' war lange einer der Slogans der
Bayern-Fans, die sich mit dem Verlieren nicht gern aufhalten. Und
jetzt, kann man an Niederlagen wachsen? Der Sozialwissenschaftler und
Publizist Jan Philipp Reemtsma hat in seinem wunderbaren Buch über den
Stil des Boxers Muhammad Ali erklärt, was das Verlieren aus dem
Verlierer macht: 'Man wächst nicht an Niederlagen. Man geht an
Niederlagen zugrunde, und wo man nicht zugrunde geht, wird man
deformiert.' Es ist ein bemerkenswerter Text über das Verlieren, so
klar und brutal wie ein verschossener Elfmeter. Reemtsma schreibt:
'Niederlagen sind unerträglich. Wer mit einem Geschäft bankrott macht,
wessen Fuß an der Latte hängenbleibt, wer auf der Bühne ausgepfiffen
wird, wer aus dem Ring geprügelt wird, wem die Frau ausgespannt wird -
die alle möchten brüllen vor Schmerz.'
Manchmal ertappt man sich an so einem Tag dabei, wie man selbst dem
Sieger und dem Sieg verfallen ist. Olympiastadion München, ein paar
Stunden vor dem großen Spiel. Es treten an: Legenden, große Fußballer
der Vergangenheit, Zico und Cafú spielen bei der internationalen
Mannschaft, Breitner, Elber, Helmer, Makaay bei den Allstars des FC
Bayern. Die meisten dieser Männer haben gewonnen, was es zu gewinnen
gibt, Goldene Schuhe, Landesmeisterpokale, Weltmeisterschaften. Sie
laufen auf das Feld wie damals, die paar tausend Zuschauer klatschen
und erheben sich. Es ist interessant, dass Fußballer ihre
Bewegungsabläufe auch dann nicht verändern, wenn sie keine Profis mehr
sind. Sie sind als Junge von irgendwem aufgezogen worden, an einer
nicht sichtbaren Schraube auf dem Rücken, und dann laufen sie einfach
immer weiter, im für alle Zeiten vorgegebenen Takt. Roy Makaay mit
seinen Storchenbeinen. Paul Breitner, das gesamte Feld durchmessend,
sich dabei umschauend, was die hinter ihm so treiben. Wenn der Wind
entsprechend steht, kann man seine kehligen Rufe hören. Breitner ist
60, aber er ist drahtig und bewundernswert fit. Eigentlich sieht er
aus wie früher, nur mit grauem Haar. Und weil das Spiel im
Olympiastadion stattfindet, und weil der Olympiaturm wie früher
reinlugt ins Stadion, und weil Breitner genau hier den Elfmeter
versenkt hat gegen die Niederländer im WM-Finale 74, denkt man: So
einen bräuchten sie heute Abend, der Paul würde es reißen.
Und dann, am Abend, Breitners Erben, kauernd am Boden der neuen Arena.
Philipp Lahm, Verteidiger wie Breitner, mutig wie Breitner. Vorm
Elfmeterschießen haben sie noch im Kreis gestanden, die Bayern, man
konnte Lahm kaum erkennen, so klein ist er, aber man konnte seine
Hände sehen, wie sie die Richtung vorgaben. Er hat die anderen
ermutigt, er hat den ersten Elfer verwandelt, ein großer Kapitän. Aber
es hat nicht gereicht.
Manchmal an so einem Abend spürt man das warme Mitgefühl für Verlierer
in sich aufsteigen, und dann geht man heim, vorbei an der
Maratonga-Bar, wo Senioren zu Schlagermusik tanzen, das Lied heißt 'Im
Hotel zur Schweigepflicht'. Die hier haben nichts mitgekriegt vom
Drama, das ist der Vorteil, wenn man sich für Fußball so gar nicht
interessiert.
Die Bayern müssen am Dienstag schon wieder ran, in Freundschaft gegen
die Niederlande. Nach dem wichtigsten Spiel kommt das unwichtigste.
Und dann fahren sie zur Nationalmannschaft, Schweinsteiger und Lahm
und die anderen. Die EM fängt bald an. Vielleicht wären sie im Triumph
durch dieses Turnier gerauscht, wenn sie die Champions League gewonnen
hätten. Sie hätten fliegen können. Jetzt müssen sie erstmal die Lust
am Fußball wiederfinden.
Man arbeitet, man verbessert sich. Man kämpft. Man misst sich mit
anderen. Man verliert. Man ist verzweifelt, aber bald hofft man. Man
arbeitet und kämpft, man verbessert sich weiter. Man ist sich seiner
Sache ziemlich sicher. Dann verliert man wieder. Man wird beschissen,
jedenfalls fühlt man sich beschissen, und verloren. Man möchte Drogba
sein, aber meistens ist man Schweini. Man liegt am Boden, man weint,
verlieren ist schrecklich, aber viel schlimmer noch als das Verlieren
ist die Gewissheit, dass man danach immer weitermachen muss.
Was ist das Großartige am Fußball? Dass er, in seinen besten Momenten,
wie das Leben ist, so kann man es wohl sagen.
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