|
Foto: Jabs |
Stille Nacht
Eine Weihnachtsgeschichte von Alexander Osang (1997)
Vor ein paar Jahren hatte ich einen Chefredakteur, der verbot, eine Reportage damit zu beginnen, wie man mit dem Flugzeug in einer fremden Stadt landet. Auch ein Taxifahrer, der den Berichterstatter in eine fremde Stadt chauffiert, durfte nicht auftreten. Es ist nie so direkt ausgesprochen worden, aber vermutlich war es ebenfalls verboten, das Einlaufen des Schiffes, mit dem sich der Reporter einem fremden Hafen nähert, zu beschreiben. Es sei denn, der Reporter springt wie einst Egon Erwin Kisch in Australien über die Reling. Und bricht sich ein Bein. Leider gab es Australien damals noch nicht.
Später bekam ich einen Chefredakteur, der Verkehrsmittel durchaus schätzte. Besonders liebte er alte Eisenbahnen. Außerdem mochte er das Wetter. Den "ersten Schnee", "die ersten Sonnenstrahlen", "die ersten Krokusse", "die ersten bunten Blätter", die ersten Störche und die letzten. Er mochte sie so sehr, daß er immer ein Plätzchen auf der ersten Seite der Zeitung für sie freihielt. Ach, wie hätte er das "Blitzeis" gemocht. Den Tag, als der Eisregen kam. Den Pankower Rentner. Naja. Jetzt gibt es einen Chefredakteur, der keinen Text lesen möchte, der mit der Bemerkung beginnt: "Die Weihnachtszeit ist ja auch die Zeit des ..."
Es ist ja auch langweilig, einen Artikel aus dem KaDeWe mit dem Hinweis zu beginnen, daß die Weihnachtszeit ja die Zeit des Schenkens ist. Die Weihnachtszeit ist ja viel mehr als die Zeit des Schenkens. Sie ist Zeit der guten Laune und der schlechten. Zeit von Zuckerwatte, Blitzeis und Jahresrückblicken. Sie ist die Zeit von Spielfilmwiederholungen und Gänsen. Und so weiter. Deswegen ist es sehr verdienstvoll, Texte zu verbieten, die mit dem Hinweis: "Die Weihnachtszeit ist die Zeit der " beginnen. Mit anderen Worten: Der Chefredakteur, er hat recht. Sehr recht. Sehr, sehr recht. Chefredakteure haben immer recht. So.
Wenn allerdings die Zeitung von allen "Die-Weihnachtszeit-ist-ja-die-Zeit-des " befreit ist, kann ein einzelnes "Die-Weihnachtszeit-ist- ja-die-Zeit-des " schon wieder ganz originell sein. Wir probieren es mal.
Die Weihnachtszeit ist ja die Zeit des Weihnachtskartenschreibens. Sie ist auch die Zeit des Weihnachtskartenerhaltens. Man schreibt Karten, man erhält Karten. Wer keine Karten schreibt, kriegt auch keine. Ich habe es ausprobiert. Ich habe seit Jahren keinen Weihnachtsgruß erwidert. Nicht, weil ich es nicht will. Ich kann es nicht. Ich kann keine Weihnachtskarten schreiben. Es gibt hundert Gründe, warum ich es nicht kann aber ich vergesse sie alle hundert im Laufe des Jahres. Deswegen kaufe ich im Dezember neue Karten. Jedes Jahr wieder, so daß ich über sehr viele Weihnachtskarten verfüge. Ich besitze bergeweise Weihnachtskarten aus den letzten zehn Jahren. Ich könnte Abhandlungen über die Weihnachtskarte im Wandel der Zeiten illustrieren. Die Weihnachtskarte zwischen Sozialismus und Kapitalismus? Kein Problem.
Aber was nutzt es. Niemand will von mir wissenschaftliche Arbeiten über Weihnachtskarten bebildert haben. Ich kriege keine Post.
In den meisten Fällen schreiben die Bekannten schon im ersten Jahr ohne Antwort nicht mehr. Einige versuchen es noch einmal und streichen mich dann von ihrer Weihnachtskartenliste.
Ältere Menschen aus dem engsten Verwandtenkreis hielten es auch schon mal vier, fünf Jahre aus. Aber inzwischen schreibt mir niemand mehr.
Außer Meltem. Meltem ist eine türkische Firma, die Unfallgutachten erstellt. Vor etwa vier Jahren hat ein Kollege von Meltem mal einen verbeulten Kotflügel an meinem Auto fotografiert. Seitdem schreiben sie zu Weihnachten. Sie schicken mir "Gute Wünsche für Weihnachten und neue Jahr". Was kann sich ein Unfallgutachter schon von mir wünschen? Daß es im neuen Jahr endlich mal wieder kracht?
Das war eigentlich alles. Bis vorgestern die Weihnachtspost vom "Team des Alfa Centro" eintraf. Meine Autowerkstatt hatte geschrieben. Ich riß den Brief mit zitternden Händen auf. Sie bedankte sich "für die harmonische Zusammenarbeit im alten Jahr".
Wir hatten uns im alten Jahr nicht gesehen. Es hatte keine Zusammenarbeit gegeben. Das "Alfa Team" bedankte sich dafür, daß ich es in Ruhe gelassen hatte. Es war harmonisch gewesen. Ohne mich. Sie hatten mich nicht vermißt.
Ich bin ein einsamer Mann.