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Foto: Jabs |
http://vaterlandsverraeter.com/synopsis/
"Auch Verräter leiden" bekennt der "Vaterlandsverräter" Paul Gratzik in dem ordentlich beworbenen Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel.
Der Schriftsteller hat schwere Schuld auf sich geladen, er bespitzelte auch seine Freunde und Frauen. Und schrieb lausige Berichte, die nicht von einem vermeintlichen Jünger der Feder zu stammen scheinen.
Natürlich will der Porträtierte nicht über seine üble Vergangenheit sprechen, das sagt er deutlich. Trotzdem gelingt es der Filmemacherin, Gratzik in seinem Dilemma zur kompromisslosen Mitarbeit zu verführen.
Dabei hilft verständlicherweise das Geltungsbedürfnis eines Künstlers nicht nur ein bisschen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Frau ihren Helden ein Stück weit vorführt. Deutlich wird mir das bei der Konfrontation mit seinen Kindern. Die jüngere Tochter begleitet er ein paar Minuten bei der Arbeit als Straßenbahnfahrerin. Sie hat ihren Erzeuger seit Jahren nicht getroffen. Die beiden haben sich nicht viel zu sagen. Noch ärger verhält es sich mit dem Sohn, den trifft er zum ersten Mal in seinem Leben.
Warum arrangiert die Regisseurin diese Begegnungen? Alle Beteiligten leiden darunter und Paul Gratzik artikuliert das nachdrücklich. Vielleicht konnte so der Gag untergebracht werden, dass er dem Jungen einen Joint anbietet - den vorzüglichen Stoff kann der Vater auf seinem Feld ernten, weil er exquisiten Samen von Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan mitgebracht bekam. Übrigens kennt er von seiner erstgeborenen Tochter nicht mal den Namen...
Die zwanzigjährige Karriere als IM "Peter" beleuchtet u.a. sein Führungsoffizier. Eine unglaubliche Figur! Wenn das ein Schauspieler wäre, hätte ich gesagt, da wird aber deutlich zu fett aufgetragen. Aber der Mann ist authentisch. Genau so wird der typische Stasi-Mann wohl irgendwann karikiert werden. Das Äußere ist wie gemalt und er labert im schönsten Sächsisch all die typischen inhaltslosen Wortkaskaden dieser oft so mittelmäßigen Scheusale, vor denen wir uns seinerzeit so fürchteten. Stolz und dümmlich zynisch grinsend erklärt dieser DDR-Büttel, dass er den größten literarischen Erfolg Gratziks, den zweiten Roman "Transportpaule", gegen das Veto des Kulturministeriums erst ermöglichte. Als Dank für treue Dienste!
Zuvor veröffentlichte der "schreibende Arbeiter" wohl mit Unterstützung der Volksschauspielerin Steffie Spira sein erstes Buch. Der Parvenü Gratzik lebte mit der 35 Jahre älteren Mimin zusammen - sie liebte es, dem Adonis im Schwimmbad lange und selig beim Springen vom 5m--Brett zuzusehen. Viele Frauen säumten den Lebensweg eines Herzensbrechers.
Die komplizierte, schillernde Biografie Paul Gratzik nahm eine jähe Wendung.
Der etwas verklärte Kommunist konnte es nicht nachvollziehen, wie die Führung seines Vaterlandes sich immer mehr vom Volk entfernte. So kündigte er seine Stasi-Mitarbeit und wurde selbstredend zum Objekt der staatlichen Überwachung.
Die Karriere stotterte.
Heute stapeln sich Bände seiner unveröffentlichten Werke in seiner Behausung. Der einstige Schwerenöter lebt von Freunden und der Familie vergessen auf dem Lande. In einem Haus, dass den Zuschauer schon im Kinosaal bibbern lässt. Im Winter scheint man tagelang heizen zu müssen. Gratzik sitzt vorm Ofen, um den Temperaturen zu trotzen.
Oder er steigt in den Keller, um dort eine Menge vom Selbstgebrannten zu trinken. Die Flasche ist nicht nur zur grimmigen Jahreszeit ständiger Begleiter. Natürlich ebenso Zigaretten. Fast unerklärlich erscheint, dass seine Bude, in der unverkleidete Strohballen als Dämmung fungieren, bei dieser unablässigen Qualmerei noch nicht abgebrannt ist. Das Domizil dieses widersprüchlichen Eremiten liegt auf dem Feld zwischen Beenz und Birkenhain, in meiner geliebten und kargen uckermärkischen Heimat. Was für ein beeindruckendes Bild, wenn die Kamera an einem nebligen Abend auf dem tief verschneite Gehöft in dieser Einsamkeit verharrt...
Anfang der 90er Jahre sah in auf diesem zum Teil verfallenen Hof mal ein Freilichttheaterstück des Berliner "Theater 89".
Welche Komik erlebt der Filmfreund in einer Szene am Sternhagener See: Paul Gratzik weist einen Dorfbengel an, ihn mit seinem Ruderboot ans Ufer zu ziehen, "damit ein Dichter sich nicht die Füße nass macht". Und der widerwillig hilfsbereite Jüngling zum besten gibt: "Sie können ja gar kein Schriftsteller sein, denn die deutschen Dichter sind doch alle tot!" Meine Mutter weiß zu berichten, dass sie den Künstler eine Zeit lang mit einem Hausschwein ("Susi") als Begleiter durch Dorf und Wald spazieren sah, so wie andere Bürger Hunde ausführen (siehe auch: Octavia Winkler "Vom Leben auf dem Lande", 9. Kapitel "Der Graf").
Die Sprache in dieser Dokumentation ist herzerfrischend natürlich. Auch wenn Gratzik unablässig "Scheiße" sagt, könnte ich ihm noch stundenlang zuhören. Seine Geschichten, mithin sein Leben ist so unterhaltsam!
Wahrlich ein Glücksfall für jeden Filmemacher! Annekatrin Hendel hat sich durch eine langjährige Freundschaft diesen Stoff verdient.
Das Werk ist witzig und temporeich.
Nicht verstanden habe ich die eingestreuten Gemälde (von Leif Heanzo), sie bebildern lediglich 1:1 das gerade zuvor erzählte.
Nichtsdestotrotz ist es außerordentlich interessant, dem mitunter lebensmüden, wohlstandsfernen, immer noch selbstverliebten, aber sympathischen Außenseiter zu erleben.
Einige Lebenslügen bescheren Paul Gratzik Gewissensbisse, da er nach seinen Worten glaubt, "ein kleines Arschloch zu bleiben."
Dieses Augenzwinkern trägt einen Kinoabend, der noch viel länger hätte sein können.
Man sollte sich diesen Streifen auf keinen Fall entgehen lassen - nächste Woche läuft er u.a. im Berliner Babylon Mitte!